Wenn Leopoldina spricht

Na, habt Ihr Corona-Geplagten heute auch das Leopoldina-Papier gelesen? Ich tippe mal, das waren heute die 19 meistgelesenen pdf-Seiten im Internet… Und: Ist Euch auch was aufgefallen dabei??? Richtig! In der gesamten Stellungnahme tauchten nicht einmal Begriffe wie Behinderung oder Inklusion auf. Bingo!

Ich werde ja nicht müde, immer wieder von uns „Unerhörten“ zu sprechen und darauf hinzuweisen, dass es uns auch noch gibt – auch wenn es einige nicht mehr hören können und denken „Die schon wieder – die nervt…“ Aber in der hitzigen Corona-Debatte, wann welche Altersstufen wieder zur Schule gehen sollen, ob es eine Mundschutzpflicht gibt oder nicht etc. fällt mir wieder mal auf: Keiner hat uns auf dem Schirm! Und offenbar auch nicht die 26 Leopoldina-Wissenschaftler.

Dabei sind viele gute und richtige Ansätze in dem Papier. Z.B. in der Warnung, dass Familien an ihre Belastungsgrenzen kommen, je länger der Shutdown anhält; dass Familien nach außen hin unsichtbar (oder in meinen Worten „unerhört„) bleiben; dass einige gesellschaftliche Gruppen besonders gefährdet seien, „weil sie über weniger Macht oder Ressourcen verfügen, um sich am gesellschaftlichen Diskurs zu beteiligen und ihn in ihrem Sinne zu beeinflussen„.

Da ist unser Problem wieder: Wir haben keine Lobby, niemand sieht uns, über uns – geschweige denn mit uns! – wird kaum gesprochen…

Die Leopoldina-Wissenschaftler betonen aber, dass für Risikogrupen unbedingt Hilfs- und Unterstützungsangebote bereitgestellt werden müssen. Zudem sehen die Wissenschaftler die – berechtigte! – Gefahr, dass sich die anfängliche Welle der Solidarität in eine „Schwächung der Zivilgesellschaft“ umkehrt und lehnen eine „vorbeugende Segregation einzelner Bevölkerungsgruppen (…) allein zu deren eigenem Schutz als paternalistische Bevormundung“ ab. Richtig so!

Ich glaube, was in der gesamten Debatte fehlt, ist der berühmte Blick durchs Schlüsselloch. Wie ergeht es uns Familien mit einem behinderten Kind nach mehr als vier Wochen Shutdown? Was bedeuten die ganzen Argumente für und wider eine Schulöffnung oder der Mundschutzpflicht?

Wenn unsere Förderschule weiterhin geschlossen bleibt (ich befürchte ja bis zum Ende des Schuljahres), dann stoßen wir sehr bald an unsere Grenzen. Wer entlastet Mama und Papa bei meiner Rund-um-die Uhr-Pflege? Macht meine Schule vielleicht doch früher auf und die Erzieher, Heilpädagogen und Therapeuten müssen einen Mundschutz tragen, heißt das für mich wiederum: Panik! Ich reagiere schon total panisch und hyperventiliere, wenn Papa oder Mama eine Mütze tragen. Ein Mundschutz bringt mich völlig aus dem Konzept und knockt mich regelrecht aus. Schule wird dann undenkbar für mich…

Das ist nur ein klitzekleiner Blick durch „mein“ Schlüsseloch – der aber zeigt, wie besonders, individuell und verschieden die Herausforderungen sind. Es gibt keine „Musterlösung“ – stattdessen müssen flexible und individuelle Unterstützungsangebote gefunden werden. Aber um diese zu finden, muss man auch miteinander sprechen und nicht über uns hinwegsehen…

Ich werde jedenfalls weiter meine Stimme (über Mama und Papa) erheben – in der Hoffnung, dass auch Leopoldina-Wissenschaftler die mal hören… 😉